- Roman: Möglichkeiten des Erzählens im modernen Roman
- Roman: Möglichkeiten des Erzählens im modernen RomanDie moderne erzählende Literatur ist - wie Lyrik, Theater, aber auch bildende Kunst und Musik der Moderne - geprägt vom Experiment. Die Autoren waren getrieben von jener im 20. Jahrhundert drängenden Frage, wie neue literarische Ausdrucksformen geschaffen werden können, die den vielfältig neuen Bedingungen - unter anderem Verstädterung, Technisierung, Industrialisierung - gerecht werden. Die Schriftsteller suchten den Bruch mit konventionellen, traditionellen Verfahren, fanden rigoros neue Erzähltechniken und widmeten sich völlig neuen Themen. Virginia Woolf, eine der wichtigsten Erneuerer der Literatur, schrieb in einem zuerst 1919 publizierten Essay zum modernen Roman: »Gleich, ob wir es Leben oder Geist, Wahrheit oder Wirklichkeit nennen, dies, das Wesentliche, hat sich auf- und davongemacht und weigert sich, länger in solch schlecht sitzende Gewänder, wie wir sie bieten, eingezwängt zu werden«. Als dieser Text unter dem Titel »Moderne Romankunst« in ihrer berühmten Aufsatzsammlung »Der gewöhnliche Leser« 1925 noch einmal erschien, hatte die später »klassische Moderne« ihren Höhepunkt schon erreicht: Epochale Hauptwerke wie Rainer Maria Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« (1910), James Joyces »Ulysses« (1922) und T. S. Eliots Gedichtzyklus »Das wüste Land« (1922) waren bereits erschienen.Im 20. Jahrhundert radikalisierte sich die »Individualisierung« der Kunstwerke, die bereits im 18. Jahrhundert eingesetzt hatte, mit neuer Entschiedenheit; für jedes einzelne Werk wurde ein jeweils nur dafür gültiges literarisches Verfahren entwickelt: Prousts Erinnerungsschleifen in »Auf der Suche nach der verlorenenen Zeit« unterscheiden sich grundsätzlich von der Stilmischung des »Ulysses«, die technisch in keiner Hinsicht der Ironie von Thomas Mann, dem Essayismus in Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« oder der von Ernest Hemingway geübten Kunst der Auslassung ähnelt. Kafka dagegen bediente sich der traditionellen Mittel plastischer Wirklichkeitsdarstellung auf so subtil hintergründige Weise, dass nahezu hermetische Texte entstanden. Die Autoren lernten aber auch von einander: Alfred Döblin von John Dos Passos, Hermann Broch von James Joyce, James Joyce von Édouard Dujardin. Aber sie übernahmen die Techniken nicht einfach, sondern verwandelten sie für die jeweils eigenen Belange.Die Erzähltechniken von Romantik und Realismus, wie sie das 19. Jahrhundert gepflegt hatte, waren spätestens um die Jahrhundertwende nicht mehr dazu geeignet, den Veränderungen der einsetzenden Moderne gerecht zu werden. Die grausamen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs hatten dem Einzelnen seine Nichtigkeit vor Augen geführt. Von Joseph Roths Leutnant Tunda in dem Roman »Die Flucht ohne Ende« (1927) heißt es in der typisch illusionslos-lakonischen Sprache der Neuen Sachlichkeit am Schluss: »Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt.« Die Hoffnungen, die einst auch Intellektuelle und Künstler mit diesem Krieg verbunden hatten, waren Ernüchterung und Erschütterung gewichen. Die rasende Entwicklung von Technik und Wissenschaft mit ihren bahnbrechenden Erfindungen wie etwa dem Automobil, den neuen Kommunikationsmedien Telefon, Schreibmaschine, Fotografie und Film hatte die Wahrnehmung grundlegend verändert und musste sich auch auf die Darstellungsmethoden der Künste auswirken. Nicht zuletzt hatten Sigmund Freud und die Psychoanalyse überhaupt ein neues Menschenbild geschaffen: Seine Untersuchungen hatten ihn gelehrt, dass der Mensch wesentlich durch sein Triebleben und das Unbewusste bestimmt und daher nicht einmal »Herr im eigenen Hause« sei, wie es in einem berühmten Zitat von ihm heißt. Die Autonomie des Einzelnen, die zu den wesentlichen Grundannahmen der Literatur des 19. Jahrhunderts gehört hatte, konnte nicht mehr - oder zumindest keineswegs mehr zweifellos - vorausgesetzt werden.Damit waren auch die Konzepte des Bildungsromans, wie er insbesondere in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert gepflegt wurde, obsolet geworden. Die ihm zugrunde gelegten Annahmen, dass die Entwicklung des Individuums auf persönlicher Autonomie beruhe, und dessen Ziel die sukzessive Vervollkommnung der Persönlichkeit zu sein habe, konnte den Autoren der Moderne nur noch naiv erscheinen. In »Professor Unrat« (1905) und »Der Untertan« (1911) zeigte Heinrich Mann seine Protagonisten in ihrer inneren Disposition von Autoritätsfixierung und Machtwille. Auch sein jüngerer Bruder Thomas Mann vermochte den Bildungsroman nur noch in ironischer Absicht aufzugreifen. In einem ebenso subtilen wie formal anspruchsvollen Sprachstil erzählt er in seinen Romanen von Niedergang, Krankheit, Alter und Tod, ohne allerdings in einen düsteren Nihilismus zu verfallen. Sein erster Roman, »Buddenbrooks« (1901), zeichnet nicht die Entwicklung eines Einzelnen, sondern den »Verfall einer Familie« nach, »Der Zauberberg« (1924) schildert die Stimmung der Agonie in einem Davoser Lungensanatorium, und der im Exil entstandene »Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde« (1947) gestaltet die für Mann zentrale Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Geist, Geist und Leben. Die Handlung in Thomas Manns Werken tritt zugunsten der Reflexion zurück, was ein generelles Charakteristikum der modernen Literatur ist. Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« wandelt die Form des »Bildungsromans einer Person« zum »Bildungsroman einer Idee«, indem er die Stilmittel von Roman und Essay miteinander verschmilzt. Die Hauptfigur Ulrich ist überzeugt davon, dass es neben dem »Wirklichkeitssinn« auch einen »Möglichkeitssinn« geben muss: Er vermag die bedrückend langweilige Realität zu übersteigen, denn »das Mögliche umfasst nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes«.Der Realismus des 19. Jahrhunderts als übernationale Stilrichtung mit ihren nationalen Eigenheiten hatte es sich, mit je unterschiedlicher Intensität und Ausrichtung, zur Aufgabe gemacht, ein möglichst genaues Abbild der Wirklichkeit zu geben. Diese Absicht wurde zwar im 20. Jahrhundert nicht grundsätzlich aufgegeben, das Verständnis der Wirklichkeit war aber so wesentlich verändert, dass ein Traditionsbruch unvermeidlich war. Die Vorstellung eines naiven Realismus, wonach die Literatur die Wirklichkeit widerspiegelt oder doch zumindest unmittelbar von ihr abhängt, wurde mehr und mehr ersetzt durch den Gedanken, dass der Text die Realität überhaupt erst herstellt. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine breite Palette von Erzähltechniken, die sowohl das Verhältnis des Textes zur Wirklichkeit als auch des Lesers zum Text und die Position des Autors neu bestimmten.Im Werk von Franz Kafka steht ein sachlich-präziser, mitunter überzeichneter Detailrealismus im Gegensatz zum vagen, oft surrealen und über weite Strecken sogar fehlenden Zusammenhang des Ganzen. Seine bedrohten, bis ins Extrem isolierten Individuen, die sich in gespenstisch-unheimlicher Atmosphäre - so in »Das Urteil« (1912), »Das Schloss« (1925) und »Der Prozess« (1926) - wieder finden, sind auf rätselhafte Weise in Schuld verstrickt. Kafka schildert sie in lakonischer Sprache, wodurch vor dem Auge des Lesers in scheinbar unmittelbarer Nähe befremdliche Bilder einer völlig fernen, grotesken Welt erstehen. So ist die eigentlich Furcht erregende »Verwandlung« am Anfang der gleichnamigen Erzählung von 1915 mit distanzierter Beiläufigkeit geschildert: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Doch Samsas Staunen gilt der Tatsache, dass er den Wecker überhört hatte: »Ja, aber war es möglich, dieses möbelerschütternde Läuten ruhig zu verschlafen?«Dem neuen Verständnis der Wirklichkeit entsprach auch ein neues Verständnis des Subjekts. Erkenntnistheorie auf der einen Seite, Psychologie auf der anderen Seite mussten gegen Ende des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt auch inspiriert von den Naturwissenschaften, das Bild des autonomen Subjekts aufgeben oder doch zumindest durch neue Aspekte variieren. Nicht nur in dem viel zitierten Satz des österreichischen Physikers Ernst Mach, dass das »Ich unrettbar« sei, der insbesondere bei den Wiener Schriftstellern der Jahrhundertwende große Aufmerksamkeit erregte, spiegelte sich die wachsende Überzeugung, dass Subjektivität und Individualität gänzlich neu zu definieren seien. Damit gelangte die Wahrnehmung selbst, die von der experimentellen Psychologie als Forschungsgegenstand entdeckt wurde, zunehmend ins Blickfeld auch der Literatur: »Wie ich es sehe« - die Betonung liegt auf »sehe« - heißt ein Titel des Wiener Schriftstellers Peter Altenberg.Beeinflusst von den neuen Erkenntnissen der Psychologie, die mit der Gründung des ersten psychologischen Instituts 1879 Aufschwung genommen hatte, entwickelte sich in der Literatur eine Erzähltechnik, die zu den wichtigsten des 20. Jahrhunderts überhaupt gehören sollte: der »innere Monolog«. Diese Erzähltechnik versucht, den Bewusstseinsstand einer Romanfigur im »stummen Gespräch« mit sich selbst wiederzugeben. Spontan, sprunghaft, assoziativ und nicht durch äußere Zwänge oder Normen reglementiert, reiht sie Gedanken und Gefühle unmittelbar anneinander und vermittelt dadurch einen Einblick in die unterschiedlichen Schichten und Bewegungen individueller Reflexion, wobei sie bis zum Unbewussten und Tabuisierten vordringt. Der Franzose Édouard Dujardin verfasste als erster einen ganzen Text in dieser Technik und gilt als deren Erfinder. Sein Roman »Die Lorbeerbäume sind geschnitten« (1888) kennt keinen Erzähler mehr, sondern der Leser scheint direkt in das Bewusstsein der erlebenden Figur zu blicken. Der Text ist Simulation der Bewusstseinsvorgänge; deshalb folgt er meist nicht der Logik der Grammatik, sondern dem Chaos gedanklicher Assoziationen.Dujardin selbst hat diese Technik als »Monologue intérieure« (»inneren Monolog«) bezeichnet. Berühmt wurde sie allerdings auch als »Stream of consciousness« (»Bewusstseinsstrom«), wie sie der amerikanische Psychologe William James 1890 nannte. Anders als die erlebte Rede, die seit dem 18. Jahrhundert zu den gängigen literarischen Erzähltechniken gehörte, verzichtet der Roman des inneren Monologs auf den Erzähler, um damit ein noch höheres Maß an Authentizität und Glaubwürdigkeit, an Plastizität und Eindringlichkeit zu erreichen. Während in der erlebten Rede die Gedanken der erlebenden Figur zwar aus ihrer eigenen Perspektive, aber in den Worten des Erzählers und damit in der dritten Person dargestellt werden, spricht im inneren Monolog die Figur selbst. Wo es dort heißt: »Konnte er das wirklich glauben?«, heißt es hier: »Kann ich das wirklich glauben?«. Und während in der erlebten Rede Satzbau und Grammatik regelgerecht angewendet werden, erlaubt sich der innere Monolog die Abweichung von diesen Normen, indem er sich stärker an der mündlichen Rede orientiert. Abgebrochene Sätze, Teilsätze, und Interjektionen gehören zu seinen Stilmitteln, das Interesse für das Unbewusste zu seinen Katalysatoren.Der Siegeszug des inneren Monologs verlief schnell und weiträumig. James Joyce hat darauf zurückgegriffen, Virginia Woolf, Alfred Döblin, Hermann Broch, William Faulkner und viele andere. Der Surrealismus hat sich seiner bedient in der »Écriture automatique«, der Technik des »automatischen Schreibens«, die nicht einmal mehr die wohl überlegte künstlerische Gestaltung des Textes beansprucht, sondern Wert legt auf die Geschwindigkeit des Schreibens selbst und den Zufall; während dort die Assoziation simulierend nachempfunden wird, ist sie hier Prinzip des Schreibprozesses selbst. Erstes Beispiel für den inneren Monolog in der deutschsprachigen Literatur ist die Erzählung »Lieutnant Gustl« von Arthur Schnitzler, die (in der »Neuen Freien Presse«) 1900 bezeichnenderweise fast zeitgleich mit »Die Traumdeutung« (veröffentlicht 1899 mit der Jahreszahl 1900) seines späteren Freundes Sigmund Freud erschien. Hier vermischen sich innere und äußere Rede: »Was ist denn? - He, Johann, bringen S' mir ein Glas frisches Wasser. .. Was ist?. .. Wo. .. Ja, träum' ich denn?. .. Mein Schädel. ..«. »Mollys Monolog«, so die geläufige Bezeichnung für das letzte Kapitel des »Ulysses«, ist im Hinblick auf die grammatischen Regelverstöße noch radikaler als Schnitzlers »Lieutnant Gustl«: Sie gehen so weit, dass eine fast vorsprachlich zu nennende Erzählstruktur entsteht, die nebenbei die musikalischen Qualitäten dieser Technik betont: »frsiiiiiiiifronnnng ein Zug irgendwo der pfeift also was diese Lokomotiven für Kraft in sich haben wie große Riesen und das Wasser läuft auf allen Seiten über sie und aus ihnen raus wie am Schluss von Loves old sweet sonnnng die armen Männer die da draußen sein müssen die ganz Nacht weg. ..«. Der Roman, der sich vordergründig auf den Verlauf eines einzigen Tages, des 16. Junis 1904, in Dublin beschränkt, weitet sich mithilfe einer subtilen Anspielungs- und Zitattechnik allerdings schnell über die vorgeblichen zeitlichen und räumlichen Grenzen aus. Die Großstadt als zentralen Schauplatz des modernen Romans haben neben Joyce viele Autoren des 20. Jahrhunderts gewählt; wie kein anderer Ort schien sie geeignet, eine Plattform für die Darstellung modernen Lebens zu bilden.Parallel zum »Linguistic Turn« in der Philosophie - der Hinwendung zur analytischen Sprachphilosophie - änderte sich Anfang des Jahrhunderts auch das Verhältnis der Literaten zur Sprache. Herausragendes literarisches Dokument der Sprachkrise ist Hugo von Hofmannsthals »Chandos-Brief« (1902): Lord Chandos schreibt in diesem Brief an seinen Freund Francis Bacon, dass ihm »völlig die Fähigkeit abhanden gekommen« sei, »über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen«: Die Begriffe, »deren sich die Zunge doch naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu legen, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze«. Wenn Chandos diesen unheilvollen Zustand auch trotz des konstatierten sprachlichen Unvermögens in Sprache auszudrücken in der Lage ist, so ist der »Chandos-Brief« dennoch ein Zeugnis für die tief gehende Skepsis seines Autors gegenüber den Möglichkeiten der Sprache, die Wirklichkeit, auch die innere Wirklichkeit, in Worte zu fassen. Die Krise, in die sich Chandos geraten sieht, ist nicht nur eine Sprachkrise, sondern zugleich eine weiter gehende Sinn- und Bewusstseinskrise. Solche Bewusstseinskrisen und ein ständiges Krisenbewusstsein sind wesentliche Charakteristika der Literatur des 20. Jahrhunderts.Oft wird dieses Krisenbewusstsein gesteigert durch die existenzielle Erfahrung von Einsamkeit, wie in Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«: »Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand weiß. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts fängt an zu denken und denkt. .. Ist es möglich, dass man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist?«. In Hermann Hesses »Steppenwolf« (1927) führt diese Bewusstseinskrise bis an die Grenze zur krankhaften Persönlichkeitsspaltung. Von der Hauptfigur heißt es: »Harry besteht nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus tausenden. Sein Leben schwingt (wie jedes Menschen Leben) nicht bloß zwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist, oder dem Heiligen und dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen tausenden, zwischen unzählbaren Polpaaren.« Und in Elias Canettis »Blendung« (1935) ist die Krise des Bewusstseins zwar wirksam, dem Protagonisten Kien aber in seiner wahnhaften Besessenheit nicht mehr durchschaubar. In den Romanen des Schweizers Max Frisch dominiert das Ringen der Protagonisten um eine Identität und die gleichzeitige Angst vor Rollenzuweisungen. »Ich bin nicht Stiller«, so hebt Frischs erster bedeutender Roman, »Stiller«, aus dem Jahre 1954 an, und in dem zehn Jahre später erschienenen Roman »Mein Name sei Gantenbein« heißt es: »Jedes Ich, das sich ausspricht, ist eine Rolle«. Gantenbein übt sich in ihnen nur momenthaft und experimentell, indem er seinen Schilderungen immer wieder den Satz vorausschickt: »Ich stelle mir vor:. ..«.Auch der Film hat die Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich beeinflusst. Schon 1913 forderte Alfred Döblin einen »Kinostil« für die Literatur. Mit seinem 1929 erschienenen Roman »Berlin Alexanderplatz« erfüllte er diese Forderung selbst: Die chronologische Abfolge der Geschehnisse ist darin zugunsten sprunghaft wechselnder »Spots« aufgegeben, die einsträngige Perspektive zugunsten vielfältiger Blickwinkel. Diese Verlagerung geht zurück auf einen Pluralismus von Anschauungen, die zwar nicht unbedingt unversöhnlich, aber doch unverbunden nebeneinander stehen - einen typischen Zug der Moderne. Zugleich wird der Roman durch die Montage- und Collagetechniken aus der bildenden Kunst bereichert: Wie etwa Georges Braque und Pablo Picassoin ihren »Papiers collés« Fundstücke aus Papier, Stoff und Holz zusammenfügten - ein Prinzip, das die Dadaisten und Surrealisten später zu einem ihrer wichtigsten Gestaltungsprinzipien machten -, ergänzten Schriftsteller wie Döblin, Joyce oder der US-Amerikaner John Dos Passos ihre Romane durch vorgefundene Textfetzen - Zitate, Schlagzeilen oder Nachrichtentexte -, um ihnen ein höheres Maß an Authentizität, aber auch an Geschwindigkeit zu verleihen; der Autor erscheint als »Bastler«. Selbst in Lyrik und Drama wurde die Montage eingesetzt: T. S. Eliots Gedicht »Das wüste Land« ist mit einer Vielzahl von Zitaten komponiert, und »Die letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus (1926) sind durchsetzt unter anderem von Zeitungstexten, militärischen Tagesbefehlen, Zitaten aus Gerichtsurteilen und Anzeigentexten.Damit entstehen Texte, die dem Leser kein Panorama der Wirklichkeit mehr bieten, sondern eine kaleidoskopartige Vielzahl von Bildern. Dieser stete Wechsel von Erzählperspektiven, wie ihn beispielsweise Joseph Conrads »Nostromo« (1904) pflegt, nötigt den Leser dazu, eigenständig aus dieser Vielzahl von Ansichten selbst Sinn herzustellen. Um die Identifikation mit einer einzelnen Figur zu verhindern, wechselt Conrad die Perspektive abrupt und bringt die zeitliche und ursächliche Folge der Ereignisse durcheinander. William Faulkners 1930 erschienener Roman »Als ich im Sterben lag« treibt diese Technik auf die Spitze. John Dos Passos' »USA-Trilogie« (1930-36) setzt einen Erzähler nur noch passagenweise ein, aber nicht mehr als werkübergreifende Instanz.Das Verschwinden des Erzählers ist jedoch nur eine von vielen Spielarten, mit denen seine Rolle problematisiert wurde. In Prousts siebenbändigem Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« (1913-27) erscheint er dagegen übergroß. Der Erzähler, dem Proust zuschrieb, er sei der, »der Ich sagt, der ich aber nicht immer bin«, setzt am Ende des Romans dazu an, den Roman seiner Erinnerung zu schreiben. In diesem Vexierbild von erinnerndem und erinnertem Ich, das zwischen angestrengter Suche nach der Vergangenheit und unwillkürlichen Gedächtnisblitzen zu einem Selbstbild, einer Identität, finden möchte, wird gerade diese Identität als Ideal der Persönlichkeit zerstört. Die Suche nach der verlorenen Zeit ist die Suche nach dem Selbst, das nur im Schreiben und darin auch nur schemenhaft entsteht, um sich immer wieder sogleich zu verflüchtigen.In André Gides Roman »Die Falschmünzer« (1925) rückt der Vorgang des Erzählens selbst in den Vordergrund. Der Franzose Gide stellt ein verzwicktes Spiel mit den Identitäten des Textes und der Erzählerfigur her: Die Hauptfigur, der Romanautor Édouard, will selbst einen Roman mit dem Titel »Die Falschmünzer« schreiben: »Ich lese das Geschriebene noch einmal durch. Wenn ich so über Azaïs spreche, wirft das auf mich kein vorteilhaftes Licht. Doch so soll es ruhig sein; diese Zeilen hier füge ich nur Bernards halber an, für den Fall, dass seine bezaubernde Indiskretion ihn abermals dazu treiben sollte, seine Nase in dieses Heft zu stecken.« Im Tagebuch, das etwa ein Drittel des Romans ausmacht, hält er seine poetologischen Überlegungen fest, sodass schließlich ein Roman über die Verfertigung eines Romans entsteht.Nach 1945 war die erzählende Literatur in Europa wie Lyrik und Drama zunächst durch die Auseinandersetzung mit den traumatischen Erfahrungen von Holocaust und Zweitem Weltkrieg bestimmt. Diese »Verstörung« - so der Titel eines Romans des Österreichers Thomas Bernhard aus dem Jahre 1964 - wirkt bis in die jüngste Vergangenheit nach.Die radikalsten und einflussreichsten Formen modernen Erzählens nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, zunächst vor allem in Frankreich, als »Nouveau Roman«. Seine bekanntesten Autoren sind Alain Robbe-Grillet als treibende Kraft und Verfasser des Manifestes »Pour un nouveau roman« (1955), Nathalie Sarraute, Michel Butor und Claude Simon. Im Umfeld der Gruppe, ohne allerdings sich ihr zugehörig zu fühlen, stehen Marguerite Duras und vor allem der mit Joyce befreundete Ire Samuel Beckett, der vorwiegend auf Französisch schrieb. Die Ablehnung realistischer Erzählverfahren ist zwar allen gemeinsam, sie wird aber von den einzelnen Schriftstellern je unterschiedlich aufgefasst und interpretiert. Der Nouveau Roman verzichtet programmatisch auf einen individuellen Protagonisten, eine linear und logisch ablaufende Handlung sowie auf die Darstellung im Rahmen eines raumzeitlichen Kontinuums. Statt dessen werden die Möglichkeiten des Schreibens selbst zum Thema, wodurch die theoretische Diskussion um die »Krise des Romans«, von der bereits Anfang des Jahrhunderts die Rede war, in den Text selbst integriert wird. Er gleicht daher eher einer Recherche, einer Suche nach der geeigneten Ausdrucksform, denn ihrem Ergebnis.Dr. Pascal NicklasAmerikanische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hubert Zapf. Stuttgart u. a. 1997.Commonwealth-Literatur, herausgegeben von Jürgen Schäfer. Düsseldorf u. a. 1981.Englische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber. Stuttgart u. a. 21993.Schirmer, Walter F.: Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur, 2 Bände. Tübingen 61983.Žmegac, Viktor: Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik. Tübingen 21991.
Universal-Lexikon. 2012.